Der Mensch und seine Früchte

Am Mittwoch sprach ich davon, dass ich beim Aufräumen die eine oder andere alte Geschichte und auch Gedichte von mir gefunden hab. Unter anderem war da ein kleines Notizbuch. Ich erkannte es sofort. A6, Ringsum mit illustrierten Delfinen bedruckt. Es lag sicher ein Jahrzehnt lang auf meinem Nachtisch. In meiner Schulzeit. Und immer, wenn mich etwas beschäftigte – im Guten oder Schlechten -, dann schrieb ich dort meine Gedanken hinein. Nicht im Sinne von „Liebes Tagebuch, heute war ein blöder Tag“. Nein, mehr in diesem Sinne…

Der Mensch und sein Lebensbaum

Ein junger Mensch pflanzte viele Samen in Töpfe. Er goss sie, hegte und pflegte sie. Und eines Tages begannen sie, zu wachsen und zu gedeihen und Knospen zu treiben. Nur ein Same wollte und wollte einfach keine Blüten bringen und wuchs langsamer und kümmerlicher als alle anderen. Der Mensch ärgerte sich sehr darüber und beschloss diesen Samen aus seinem Topf zu entfernen und wegzuwerfen. Auf seinem Heimweg warf er ihn achtlos in den Straßengraben und vergaß den Samen.

Jahrzehnte zogen ins Land und als alter Mann kam er wieder in die Gegend seiner Jugend. Die sengende Hitze des Sommers brannte und er beschloss, eine Pause zu machen. Er setzte sich unter einen großen Baum und genoss die Kühle seines Schattens. Und er war nicht der einzige. Der Baum hatte eine so große Krone, dass ganze fünf Menschen gemeinsam darunter Schutz vor der Sonne fanden. Sie kamen mit dem alten Mann ins Gespräch und erzählten ihm von einem klugen Menschen, der vor vielen Jahren den Samen für diesen Baum gepflanzt hatte, um zukünftigen Reisenden zu helfen, der vorausdachte und nicht nur an sich selbst, der sich die Zeit nahm, einen Samen zu pflanzen, der erst unscheinbar und klein war und erst lange Zeit später zu einem prächtigen Baum heranwachsen sollte.

Da wurde dem alten Mann klar, dass sie von seinem Samen und seiner Tat sprachen, und ihm wurde ganz seltsam dabei, denn er hatte einst aus ganz anderen – egoistischen – Gründen gehandelt. Nun lobten diese fremden Menschen sein Tun ohne die Wahrheit zu ahnen. An diesem Tag schwor sich der Mann, nie wieder voreilig einen Samen wegzuwerfen. Denn er hatte begriffen, dass aus jedem noch so kleinen, unscheinbaren Ding etwas Großes, Wundervolles werden kann.

Und wenn ich heute auf diese Geschichte zurückblicke, dann fällt mir noch eine zweite Erkenntnis ein: Auch, wenn jemand etwas Unachtsames, Egoistisches tut – ohne die geringste gute Absicht –, dann kann trotzdem etwas Gutes daraus entstehen. Selbst, wenn es manchmal ein halbes Leben braucht, um das zu erkennen.

Aber ehrlich. Ganz schön schwülstig für ein pubertierendes Kind oder? Diese Geschichte stand auf einer zerfledderten Blattsammlung, die hinten in meinem Notizbuch klemmte. Ich war ehrlich überrascht. Viele Metaphern und Gleichnisse in diesem Buch hatte ich längst wieder vergessen. Und um ehrlich zu sein, hat es mir gut getan, in den letzten Tagen am Abend vor dem Einschlafen in den Gedanken meines jüngeren Ichs zu blättern. Zu der Zeit, als ich diese und ähnlich Geschichten und auch Gebete schrieb, versuchte ich trotz starkem Mobbing in der Schule zurecht zu kommen. Ich erinnere mich, wie stur ich gewesen war. Dass ich nicht die Klasse wechseln wollte, weil ich diesen idiotischen Briefen und Anrufen nicht nachgeben wollte. Ich wollte nicht, dass „die“ gewinnen. Aber, dass ich bei allen Zuhause vergossenen Tränen so optimistisch war und eher noch für die gebetet hab, die mir das antaten, das hatte ich schon fast vergessen. Heute, mit über 10 Jahren Abstand, finde ich nichts Schlimmes daran, offen über damals zu schreiben und ich versuche mich daran zu erinnern, wer ich damals war.

Ich überlege, was ich denen mit auf den Weg geben kann, denen es heute genauso geht wie mir damals. Ich habe sie gehasst, all die tollen Weisheiten um mich herum… „Lass Dich nicht unterkriegen“, „lass Dir am besten nichts anmerken“, „ignorier sie einfach“ – das sagten die einen. „Du solltest Dich wehren“, „lass Dir nicht alles gefallen“ – das sagten die anderen. Und dann gab es noch die, die mir rieten die Schule oder wenigstens die Klasse zu wechseln und die, die mir rieten, einen Psychologen aufzusuchen – das Problem könne ja schließlich nur bei mir liegen, wo sich doch der Rest der Klasse wunderbar dabei verstand, mich zu ärgern). Ich solle doch offener sein, aktiver, mich mehr beteiligen und auf andere zugehen.

Was glaubten diejenigen, die mir diese Ratschläge gaben, eigentlich, was ich tat? Ich versuchte es gleichermaßen mit ignorieren wie mit wehren. Ich versuchte das Geläster und die Blicke nicht zu sehen und mich dennoch zu melden (an meinen Mitarbeitsnoten änderte das übrigens reichlich wenig, ich war doch schließlich „die Stille“ – das änderte sich doch nicht). Keiner der tollen Tipps funktionierte. Trotzdem bin ich heute hier.

Was also kann ich anderen raten, die unter Mobbing leiden? Erst fiel mir nichts ein. Aber dann wurde es mit jedem Satz mehr. Also zähle ich meine Gedanken einfach einmal auf:

  • Du bist nicht schuld. In meinem Fall war es objektiv betrachtet recht simpel: Es fing an, schwierig zu werden, als meine Klasse und vor allem ihre Eltern bemerkten, dass wir nicht nur am Berliner Stadtrand wohnten, sondern schon immer dort lebten. Ich war die erste „Ost“Schülerin an einer „West“Schule. Warum dass Mitte der 90er so schrecklich war und ich teilweise behandelt wurde, als hätte ich eine ansteckende Krankheit, kann ich nicht sagen. Nur, dass es traurig ist. Dass wir alle Menschen sind. Und das jeder, der aus irgendeinem Grund anders ist und deshalb unter Ausgrenzung leidet, nicht schuld ist an dieser Ausgrenzung.
  • Versuch nicht jemand zu sein, der Du nicht bist. Du überstehst die Schule dann mehr im Schein als im Sein. Da ich teilweise unsichtbar für meine Klasse war, hörte ich oft genug, wie die besten Freundinnen übereinander sprachen, wenn die andere weg war. Schmeichle Dich nicht bei jemandem ein, der Dir gar nicht sympatisch ist – nur um dazuzugehören. Erkaufe Dir die Freundschaft nicht. Eine Verbindung auf Grund von Geld, Hausaufgaben oder anderen Vorteilen hat nichts, aber auch gar nichts mit Freundschaft zu tun. Das hast Du nicht verdient. Was Dir Stärke gibt, ist, dass Du Charakter entwickelst und einen eigenen Willen. Klingt nicht einfach und ist es auch nicht. Es ist dennoch mein Rat.
  • Finde einen Menschen, der Dir Mut macht. Ich rede nicht von Mitleid. Ich rede von Mut. Jemanden zu haben, bei dem man schimpfen und sich ausheulen kann (vorzugsweise Mütter oder ältere Geschwister) tun auch gut, ja. Aber Mitleid wirst Du immer schnell bekommen. Was Du aber brauchst ist Mut. Finde jemanden, der Dich stärkt, der Dir sagt, dass er an Dich glaubt und Du das schaffen kannst. Ich hatte das Glück, dass mein erster Klassenlehrer an mich glaubte, dass er mir Mut machte und verstand, weshalb ich die Klasse nicht wechseln wollte. Rückblickend trug er damals vor inzwischen fast 20 Jahren entscheidend dazu bei, dass ich heute die bin, die ich bin.
  • Richte den Blick auf die Zukunft, aber genieße auch die Gegenwart. Wie man Mobbing genießen soll? Natürlich gar nicht. Aber auch Dein Leben besteht nicht nur aus Mobbing, nicht nur aus Menschen, die Dich verletzen. Tröste Dich nicht einfach damit, dass es irgendwann vorbei ist (das wird es sein und dann wirst Du die Chance haben, einen neuen ersten Eindruck zu machen und gestärkt in deine Zukunft gehen). Finde einen Weg, auch deiner Gegenwart Gutes abzugewinnen. Je nachdem, wie introvertiert ein Mensch ist, kann dieses Gute in vielen verschiedenen Dingen liegen: Freunde jenseits der Schule, Hobbies, bei denen man andere Menschen trifft – oder für die ganz Zurückgezogenen Bücher (Bücher sind wundervolle Begleiter, sie eröffnen einem mehr Orte als man jemals bereisen könnte und erweitern Wissen und Toleranz – und sie sind ein Schutzwall, aber sie ersetzen auf Dauer keine Freunde). Trau Dich. Egal wie viele Menschen um Dich herum unfair zu Dir sind – sie sind nicht alle so.
  • Du bist nicht allein. Und das ist auch der beste Beweis dafür, dass nicht alle so sind. Es gibt viel zu viele Menschen, die unter Mobbing leiden. Und es scheint fast so, als würden es immer mehr werden. Oder es wagen immer mehr, darüber zu sprechen. Vielleicht werden auch immer mehr Menschen mutig und nehmen die ihnen zugedachte Opferrolle nicht an. Sich wehren muss nicht bedeuten, zu schreien oder zu schlagen. Ignorieren muss nicht bedeuten, wegzuhören oder die Augen zu schließen. Viele Menschen in jedem Alter treffen auf Missgunst, Neid, Unwissenheit, Ignoranz und Intoleranz.

Ich war und manchmal bin ich noch immer eine davon. Wir haben Nehmerqualitäten, wir können einstecken, aushalten. Wir können runterschlucken, was uns auf der Zunge liegt, und den Schritt mehr machen, den Mobber nicht tun können: Wir können uns in unser Gegenüber hineinversetzen und uns fragen: Warum kann dieser Mensch sein Leben nicht mit Zufriedenheit beschreiten ohne andere unzufrieden zu machen? Warum kann dieser Mensch sich nur groß fühlen, indem er andere klein hält? Und dann wird uns klar: Die Opfer von Mobbing sind die Täter. Und niemand kann uns dazu zwingen, auch ein Opfer zu sein. Wir müssen uns nicht damit abfinden. Wir können den Schritt aus dem Dunstkreis der lächerlichen Sprüchen und hilflosen Handlungen unserer Kontrahenten hinaus machen und sie einfach stehenlassen.

Und wisst ihr was? Wenn wir es schaffen, so damit umzugehen, dann ist Mobbing fast schon wie ein Same, den man weggeschmissen hat. An der Tat ist nichts, aber auch gar nichts Gutes. Aber am Ende kann dennoch ein Happy End stehen.

Sincerely

the wingscriber pls sig

P.S.: Ziemlich lang und ziemlich harter Tobak. All das sind meine eigenen Erfahrungen und Erinnerungen. Der Weg, der für mich funktioniert hat und die Erkenntnis, die ich heute habe. Ich weiß nicht, ob diese Ratschläge allen helfen können. Wahrscheinlich nicht. Aber vielleicht machen sie dem einen oder anderen Mut. Gebt nicht auf! Es lohnt sich, weiterzumachen. Glaubt nur eins nicht: Dass ihr hart werden müsst, um das auszuhalten. Damit verletzt ihr Euch selbst und die Menschen, denen ihr ehrlich wichtig seid. Die, vor denen ihr Euch schützen wollt, die interessieren sich nicht für harte Mauern. Die finden immer Schlupflöcher und Risse im Putz. Nur wer ehrlich bei Euch anklopft und offen bei Euch sein will, wird von Mauern verschreckt.

Mary Cronos

Autorin, Künstlerin, Podcasterin

Mary ist ein kreatives Chaos in Person. Neben ihrer Autorentätigkeit bietet sie ihren Kolleginnen und Kollegen auch Dienstleistungen wie Coaching und Beratung, Cover- und Werbedesign, Portrait- und Eventfotografie sowie Illustrationen an. 2019 startete sie darüber hinaus ihren Kreativpodcast Carpe Artes und 2020 mit Sabrina Schuh Fakriro – die Messebühne für Selfpublisher, die inzwischen durch zahlreiche Nebenprojekte ergänzt wurde. Die neuestes Projekte sind „Spiritus Daemonis“ mit Autorenkollege Jan Gießmann und ihre zahlreichen Shows auf Twitch.

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